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Ein lohnenswertes Leben nach sexueller Gewalt – Fantasie oder erreichbares Ziel?

"Alle Dinge dienen zum Besten dem, der Gott liebt." (Römer, 8,28)


Vorwort

 
In diesem Buch nehme ich Sie als Leserin und als Leser mit in mein Leben. In ein Leben, das lange dem Untergang geweiht schien. In ein Leben, das nach und nach durchbrechen kann. In ein Leben, das ich heute immer mehr wirklich leben kann. In ein Leben, das geprägt ist von Verwandlung, dem Willen, mein Bestes zu geben und dem Glauben an einen heilenden, mitfühlenden, mitleidenden und mitfeiernden Gott. Er heilt die verheerenden Wirkungen der sexuellen Gewalt in meinem Leben, fühlt und leidet mit, wenn ich leide und feiert meine kleinen und großen Erfolge mit.
Ich lasse Sie an meinen Tagebuchaufzeichnungen teilhaben, an Briefen an Freunde, an meinen Kämpfen, meinem oft hilflosen oder wütenden Schreien, meinen Fragen, meiner Ohnmacht, meinem Glauben, meinen kleinen und grossen Schritten auf dem Weg zu meiner Heilung. Ich habe inzwischen ein recht ausgeglichenes Leben. Und manchmal, da lebe ich wirklich! Spüre das Leben in seiner Vielfalt. Fühle mich lebendig. Tanke auf. Doch ich bin immer noch unterwegs.
In diesem Buch stehen keine Rezepte. Manchmal ist mein Leben hart, unüberschaubar, wirr, schmerzhaft und anstrengend – aber ich lasse mich nie lange vom Ziel abbringen. Rückschläge gehören zum Leben. Auch zu meinem Leben. Und erst recht zum Heilen. Es gibt Heilung, denn es gibt einen Gott! Mein Gott hält mir stand. Er ist mir, meinen Fragen und meinen Anklagen gewachsen. Ich bin ihm seinen ganzen Einsatz wert. Warum sollte ich mir weniger wert sein?
Zum Schutz der betroffenen, noch lebenden Personen schreibe ich unter einem Pseudonym. Alle Namen der in diesem Buch erwähnten Personen sowie ihre Lebensumstände sind verändert.



Aus meinem Tagebuch:


12.1.00

Heute Nacht erwachte ich um ca. drei Uhr, als wenn es Tag wäre – keine Panik, zum ersten Mal in meinem Leben! Heute hat die Nacht nichts Beängstigendes mehr an sich. Sicher, manchmal habe ich noch heute Albträume, aber sehr, sehr selten! Und wenn, dann brauche ich manchmal einen Moment, bis ich wieder das Licht löschen kann.
Aber normal ist es inzwischen, dass die Nacht so sicher ist wie der Tag.



04.06.06 – Chaos in mir

Bin total durcheinander und fühle mich schrecklich gestresst und habe Angst. Gerade gestern habe ich noch gedacht, wie gut es im Moment läuft. Gestern Abend habe ich jedoch festgestellt, dass Orion plötzlich auf einem Auge fast blind ist. Das kam ganz plötzlich! Vorgestern noch alles in Ordnung, heute fast blind... Ich muss nächste Woche gleich am Montag zum Augenarzt mit ihm – also zu einem für Kleintiere. Jeder Termin stresst mich sowieso enorm und nun noch das! Orion scheint es nichts auszumachen, dass er nur noch auf einem Auge gut sieht, aber ich habe Angst! Ich fühle mich überfordert und gestresst.

Hm, es gäbe jetzt trotzdem Positives zu berichten, weil eben doch trotz Stress und Panik und Überforderung nicht mehr dasselbe auslösen wie vor ein paar Jahren. Und das, obwohl ich ziemlich stark dissoziiert habe und mein Körper mir plötzlich wieder so fremd vorkam und das Handy in meiner Hand von einer fremden Hand gesteuert schien. Sobald ich irgendwie wieder mag, schreibe ich auf, was trotz allem doch positiv ist.
Aber im Moment bin ich nur extrem müde – habe die Medikamente gegen das RLS schon eingenommen, was extrem müde macht, damit ich auch schlafen kann und gestern war ich über drei Stunden mit Orion am Fluss. Ich hatte ein aufblasbares Kopfkissen dabei und eine Decke und es war wirklich super! Aber jetzt gerade...



Vertrauen: nicht weiß oder schwarz

Heute gehe ich positiv an Freundschaften heran, pflege alte, gründe neue, vertraue und weiß doch, dass jede Freundin, jeder Freund das Potenzial in sich trägt, mich irgendwann zu enttäuschen, zu verraten oder zu verlassen. Nein, nicht pessimistisch mit dem Gedanken: „Sie werden mich sowieso irgendwann verlassen oder verraten oder verletzen.“ Nein, mit dem Wissen, dass Menschen Menschen bleiben, auch wenn sie Freunde oder Freundinnen sind. Das macht mich gelassener und nicht mehr angstbesetzt im Umgang mit Freunden und Freundinnen. Ich weiß, ich schaffe es auch, wenn einmaletwas schiefläuft! Ich bin stark! ICH bin stark! Freunde müssen nicht für MICH stark sein, ich bin selbst stark und kompetent für mein Leben. Und das ist das, was mir Sicherheit gibt!



19.05.2006

Bevor Jesus Christus Mensch geworden ist: Sie mussten Böcke in die Wüste schicken, mit ihren symbolischen Sünden bepackt. Sie mussten Opfer bringen, die doch nichts in der Tiefe bewirkten.
Doch dann kam Jesus. Er wurde Mensch wie wir. Er war tadellos, sündlos, ein Teil von Gott, makellos, gerecht, hatte in einer Symbiose mit seinem Vater Gott gelebt, die wir Menschen gar nicht kennen, und da wir nicht einmal imstande wären, sie uns vorzustellen, würde Jesus versuchen, sie uns zu erklären. Trotzdem:
Er blieb nicht dort beim Vater, in dieser endlosen Symbiose. Er gab seine Zustimmung zur Trennung vom Vater. Er gab seine Zustimmung, ein Mensch zu werden. Ich versuche mir vorzustellen, wie das für Jesus gewesen sein muss: Im einen Moment noch selbst Gott UND ein Teil von Gottvater zu sein mit dem Heiligen Geist, und im nächsten geteilt in Sperma und Eizelle. Dann zwei Zellen, eingesperrt im Mutterleib, eingesperrt in der Fruchtblase, ernährt durch den Mutterkuchen – kannte Jesus vorher Speise und Trank? Ich habe keine Ahnung! Neun Monate gefangen auf kleinstem Raum. Dann die Wehen, die Geburt: Schmerzen! Nach der Geburt: Kälte, Lärm, in einen winzig kleinen Körper gepresst, darin gefangen, unfähig, sich verständlich zu machen, nur sein Weinen und Schreien waren möglich. Immer auf andere angewiesen, die seine Mutter und sein Vater „waren“ – eigentlich seine Pflegeeltern. Erlernte sprechen, gehen, laufen, springen und vieles mehr. Sein Körper wurde größer und größer, und doch war er immer um vieles kleiner als der Raum, in dem er vorher mit seinem Vater zusammen war. Über 30 Jahre in einem Menschenkörper eingesperrt. Dieselben Gefühle, dieselben Versuchungen, wie wir Menschen sie kennen: von Liebe bis zu Hass und Wut – und nie auch nur ein sündiger Gedanke! Dieselben körperlichen Empfindungen: Schmerz, Kälte, Wärme, Hitze, Verliebtsein (?), Begehren nach körperlicher Vereinigung mit einer Frau (?), Liebe zu einer Frau (?)... und nie eine einzige Sünde!

Und dann kam das Schlimmste von allem: verraten von seinen Freunden – die schliefen, während er die tiefsten Nöte ausstand. Nur einer stand ihm bei: sein Vater, mit dem er nicht mehr in solcher Gemeinschaft sein konnte wie zuvor. Er war körperlich getrennt von ihm und doch im Geist mit ihm vereint.
Zerreißprobe... Jesus will nicht ans Kreuz! Er hat Angst davor! Er schwitzt Wasser UND Blut! Doch er sagt: „Nicht mein Wille, dein Wille geschehe.“
Und hält alles aus und durch. Lässt sich von Petrus verleugnen und vergibt ihm doch in allem Verständnis, weil er weiß, wie schwach wir Menschen nun einmal sind... Er erleidet die denkbar schlimmste und schmerzvollste Todesart der damaligen Zeit (ob es auch die in unserer Zeit wäre, weiß ich nicht). Er stirbt nicht sofort. Er leidet unmenschliche Schmerzen! Er ruft: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Einer gibt ihm ein Schmerzmittel (Schwamm mit Essig getränkt). Dann schreit Jesus laut auf und stirbt. Bei einem normalen Menschen wäre das das Ende gewesen. Aus, vorbei, keine Chance mehr, Hoffnung vergebens auf ihn gesetzt. Zurück bleiben Verzweiflung, Unverständnis, Herzschmerzen, die Bilder seiner Ermordung, seiner Marter – Karsamstag... der Tag zwischen den Tagen...
Doch Jesus bleibt nicht im Tod! Er ist frei! Er hat keine Sünde begangen, war nie ein Sünder, blieb sündlos und der Tod konnte ihn nicht halten – hatte kein Anrecht an ihm. Jesus ist auferstanden. Er lebt. Er ist wieder mit seinem Vater vereint! Und nun kann er gleichzeitig durch den Heiligen Geist in uns wohnen, mit uns Gemeinschaft haben und ist mit seinem – und unserem – Gottvater vereint, wie auch wir es einmal sein werden.


Und nun kommt der absolute Clou!

Weil Jesus sündlos für uns Sünder, die Gott, der Vater, nie berühren könnte, die Gott, den Vater, nie sehen könnten, gestorben und auferstanden ist, sind wir in Gottes Augen rein und ganz. Gott, der Vater, sieht uns durch Jesu Tat am Kreuz an und sieht uns rein und heilig, wie Jesus es war, ist und immer sein wird. Ist das nicht Wahnsinn? Egal, wie sündig oder fehlerhaft wir uns fühlen und uns auch immer wieder schuldig machen: Gott sieht uns in Jesus fehlerlos und heilig!

Deshalb hat Jesus auch keine Schwierigkeiten, mit verletzten Seelen in Berührung zu kommen. Jedes Opfer, das wir hätten tun müssen, damit der große Gott uns trotz unserer Sünde berühren und heilen kann, hat Jesus erledigt mit seinem Tod am Kreuz! Keine Sünde kann je mehr so groß sein, dass Jesus sich abwenden müsste. Er ist nicht der Arzt, der sich erst steril machen muss und bei der Berührung einer Wunde unsteril wird. Jesus ist der Arzt, der, egal, wen oder was er berührt, „steril“ und rein bleibt. Genau deshalb kann er uns ja berühren und heilen.
Jesus jedoch ist kein Draufgänger, und er tut nichts ohne unseren Willen und auch nichts, was uns zu große Angst macht. Er geht ganz behutsam, verständnisvoll und heilend vor. Er kommt nie näher, als wir es ertragen, und doch ist er immer nahe genug, um uns eine Hilfe zu sein. Es gibt auf der ganzen Erde niemanden, der so behutsam und so verständnisvoll mit einem Menschen umgehen könnte. Er sieht und kennt uns bis ins Allerinnerste – quasi bis in jede Zelle und jeden kleinsten Gedankenfetzen – und er weiß, wie was mit welcher Tat oder welchem Gedanken, welcher Aussage oder welchem Erlebnis zusammenhängt.

Er ist einfach einzigartig, denn in dem allen verurteilt er uns nicht, denn er wurde ja bereits für uns verurteilt! Dafür macht er jetzt Folgendes: Er nimmt uns an, liebt uns und bringt uns mit unserem himmlischen Vater in Verbindung.

Gewisse Erfahrungen und Erlebnisse und unsere Muster, mit denen wir Erfahrungen und Erlebnisse verarbeiten, verhindern die Sicht auf diesen großartigen Jesus. Das kenne ich ja genug von mir selbst! Manchmal hänge ich nur in meinen eigenen Gedankengebilden, meiner eigenen Angst, meinem eigenen Denken und meiner eigenen Welt. Orientiere mich mehr an irgendwelchen Weltbildern und dem, was ich als Kind gelernt habe – lernen musste – als an der Wirklichkeit von Gottes Welt. Und dann wird’s sinnlos, nicht machbar, aussichtslos ... so à la: „Es ist eh alles verloren, also was soll’s?!“

Aber das ist nicht die Wirklichkeit von Gottes Welt. Und diese Welt, die fängt nicht erst nach dem Tod, auf der neuen Erde, an. Die fängt hier und jetzt an und spielt sich hier und jetzt ab! Ich wende mich nur allzu oft ab und glaube meinen „Erderfahrungen“ mehr als Gottes Wort!...