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Der Internatsbesuch


Immer wieder stehe ich irgendwo auf einem Bahnhof vor einem Billettschalter, um nach der nächsten Verbindung zu fragen, und starre auf große von der Decke herabhängende Anzeigetafeln, die die nächsten Zug- oder Busabfahrtszeiten bekannt geben. Ich finde es schlichtweg verwirrend, aber ich genieße die abenteuerlichen Gefühle, die mir diese Reise bereitet! Einmal sitze ich bereits im (noch stehenden) Zug, als ich eine Frau frage, ob ich im richtigen säße, und muss nach ihrem „Nein" Hals über Kopf meine Sachen zusammenklauben und in Windeseile wieder aus dem Zug springen. Ein paar Sekunden später fährt er ab – Gott sei Dank ohne mich!
Erleichterung und Freude sind groß, als ich am Dartoner Bahnhof meine Freundin Daniela entdecke, die mich abholen kommt. Vom Weg zur Sprachschule habe ich nämlich weder eine Skizze noch eine Beschreibung. Daniela ruft mir, über ihr ganzes Gesicht strahlend, zu: „Wie schön, dass du endlich da bist!", und ergänzt dann, vor mir stehend: „Ich hoffe, du fühlst dich hier wohl. Komm, du kannst mir deinen Koffer geben!" In wenigen Minuten sind wir in ihrem roten Peugeot beim Internat  angekommen, das sich mit einem großen Schild am Eingang vorstellt: Willkommen an der evangelischen Sprachschule Darton!
Daniela, die seit ein paar Monaten an dieser Sprachschule das Sekretariat führt, ist meine beste Freundin und wir haben uns seit ihrer Abreise nach England nicht mehr gesehen. Nun will ich ein paar Ferientage bei ihr verbringen und gleichzeitig die Schule sowie England ein wenig näher kennenlernen.
Das Gebäude, in dem die Sprachschule mit allem, was dazugehört, untergebracht ist, hat vier Stockwerke mit unzähligen engen, hohen und, für meine Begriffe, dunklen Gängen und Treppen. „Ob ich je von alleine mein Zimmer oder irgendeinen anderen Raum finden werde?" Fragend sehe ich Daniela an. „Das kommt dir nur so verworren vor, weil alles für dich neu ist. Du wirst sehen, bald wird dir jeder Winkel vertraut sein. So, hier ist dein Zimmer", fügt sie hinzu, während sie die Tür öffnet, vor der wir inzwischen angekommen sind.
Mit abgeschrägter Decke und hübsch geblümten Vorhängen an den Fenstern empfängt mich das winzig kleine Zimmer und löst in mir sofort ein Gefühl der Sicherheit und Geborgenheit aus. Die Tür kann ich nicht ganz öffnen, da sie vorher ans Bett stößt. Außer dem Bett steht da nur noch ein schmaler, aber hoher Schrank. Ein Duft nach Holz hängt in der Luft. Ich drehe mich wieder zu Daniela um: „Hier werde ich mich bestimmt wohlfühlen." Ich packe meinen Koffer aus und nach einer wohltuenden Dusche bin ich reif für das frisch duftende Bett.


Die erste Begegnung


Mein erster Spaziergang mit Daniela am Strand entlang ist ein großes Erlebnis. „Irgendwie wird mir hier ganz leicht zumute. Leicht, aber auch andächtig", sage ich zu Daniela. Wir sind beide nachdenklich und still. In dieser Stille gehen meine Gedanken zum Vorabend zurück:
„Bist du bereit? Der Abendgottesdienst fängt gleich an." Daniela hatte durch meine offene Zimmertür geschaut. Ich war froh gewesen, dass sie mich abholen kam. Ich fühlte mich in dem großen Haus noch unsicher. „Wir können gehen." Nach einigen Liedern und einer Gebetszeit war einer der Lehrer aufgestanden. „Paul Lindsay", hatte Daniela mir ins Ohr geflüstert. „Er ist neu hier und unterrichtet die 4. Klasse." Eigenartig vertraut war mir dieser Lehrer vorgekommen, obwohl ich ihn noch nie gesehen hatte. Er hatte von seinem beruflichen Werdegang erzählt und wie Gott ihn an diese Sprachschule geführt hatte. Was war es gewesen, das mich gleich so für ihn eingenommen hatte? Er hatte auf mich den Eindruck eines Mannes gemacht, der eine lebendige Beziehung zu Gott hat. Und er hatte einen frischen, unverbrauchten, sauberen Eindruck hinterlassen...
Bei diesem Gedanken werde ich abrupt in die Gegenwart zurückgeholt. Ein paar Hunde laufen bellend und einander jagend über den Sand, dicht an uns vorbei. „Das ist um diese Zeit meistens so", erklärt mir Daniela. „Komm, wir gehen etwas weiter."
Unermüdlich kommen die Wellen, türmen sich, schmücken sich mit weißen Schaumkronen und laufen auf dem Sand aus. Viele bunte Steine in verschiedenen Größen säumen den Strand. Die Sonne kommt nochmals hinter ein paar Wolken hervor und die See beginnt zu leuchten. Eigenartig, erst im Zimmer wird mir bewusst, dass überall in Darton das stete Kreischen der Seemöwen zu hören ist. Bis in mein Dachzimmer hinauf.
Das ist der Beginn einer mehrjährigen Verbindung zwischen mir und England.