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Als Teenager schlug ich einmal mit meinem Kopf so lange gegen
einen Betonpfeiler, bis meine Stirn blutete. Eine Klassenkameradin stand
hilflos daneben. Danach fuhren wir zum Religionsunterricht. Ich war wie
betäubt und völlig teilnahmslos. Auf die Fragen, die der Pfarrer an mich
richtete, antwortete ich nur mit einem wortlosen Kopfschütteln – ich war
zu betäubt, um antworten zu können und hatte ausserdem keine Ahnung,
wovon er sprach. Ich frage mich, warum mein Zustand dem Pfarrer nicht
aufgefallen war, warum er nichts unternommen hatte, mich nie gefragt
hatte, was los gewesen war. Ich weiss, dass ich ihm auf diese Frage keine
Antwort gegeben hätte, denn ich hatte kein Vertrauen zu ihm, aber er
hätte doch fragen können ...
Irgendwann habe ich angefangen, mich mit Messern oder Rasiermessern
zu schneiden. Es ist allerdings bereits zehn Monate her, seit ich
mich das letzte Mal geschnitten habe. Ich schneide mich nicht einfach,
weil ich das toll finde. Dem Schneiden geht immer ein langer Kampf gegen
die seelischen Schmerzen voraus und wenn ich es nicht mehr ertrage,
schneide ich mich. Das verlegt die seelischen Schmerzen von innen
nach aussen. Und die äusseren sind leichter zu ertragen als die inneren.
Das Schneiden ist wie ein Ventil, das verhindert, dass ich explodiere. Mit
meiner Therapeutin habe ich die Vereinbarung, dass ich mich vor einer
Selbstverletzung bei ihr melde. Das wirkt inzwischen auch wie ein Ventil -
sofern sie erreichbar ist ...
Ich habe einmal an einem ganz normalen Tag, an dem es mir ziemlich
gut ging, versucht, mich zu schneiden. Ich konnte nur ein kleines
Schnittchen machen, das war alles. Das führte mir vor Augen, wie enorm
die inneren Schmerzen sein müssen, damit ich mir bis zu 30x mehr Schnitte
zufügen kann/muss (konnte/musste?). Die Narben sieht man heute noch.
Lange dachte ich, dass nur ICH das machen würde – mich schneiden.
Doch dann lernte ich eine andere Frau kennen, die sich auch schnitt.
Und dann las ich, dass sich sehr viele, die als Kinder sexuell missbraucht
worden sind, selbst verletzen. Viele viel schlimmer als ich.